Auszug aus Heft 6/15
Die Bewegungslehre der Traditionellen Tibetischen Medizin ist ungeheuer vielseitig: Sie schenkt Wohlbefinden im Alltag, fördert Heilungsprozesse und bietet zudem Varianten auch für weniger leistungsfähige Menschen.
Waren das jetzt schon siebenmal? Ich war so auf den korrekten Ablauf der Übung konzentriert und darauf, gleichzeitig meine Atmung zu koordinieren, dass ich beim Zählen der Durchgänge irgendwann durcheinander gekommen bin. Genau siebenmal soll jede Übung wiederholt werden. Elke Höllman schmunzelt: „Schon deshalb ist es gerade am Anfang gut, mit einem Lehrer zu üben und ihm das Zählen zu überlassen – dann kann man sich ganz auf einen harmonisch fließenden Bewegungsablauf konzentrieren.“ Die Leiterin des Zentrums für Tibetische Heilkunst (www.sati-yoga-zentrum.de) in Plochingen weist mich zusammen mit ihrer früheren Schülerin Nicole Mugrauer in Lu Jong ein (gesprochen: Lu Dschong mit weichem „d“). Sie unterrichtet die tibetische Bewegungslehre inzwischen in Stuttgart (www.lu-jong-yoga.de). Noch sind die Übungen vergleichsweise unbekannt, doch gerade in Deutschland wächst die Zahl der Angebote für das „tibetische Heilyoga“ derzeit stetig (die offiziell zertifizierten Lehrer finden Sie auf www.lujong.org).
Teil der tibetischen Medizin
Neu ist Lu Jong allerdings keineswegs, sondern mit rund 8000 Jahren sogar uralt. Es ist ein wichtiger Teil der Traditionellen Tibetischen Medizin (TTM), die viele Gemeinsamkeiten mit der chinesischen Heilkunst hat, aber in einigen Punkten – zum Beispiel der Pulsdiagnose – detaillierter ist. Dafür wird in der tibetischen Medizin keine Akupunktur angewendet, obwohl Energieströme in definierten Bahnen, ähnlich den Meridianen, hier ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Sie werden Essenzen genannt, die sich in Kanälen bewegen. Diese 72 000 Kanäle werden während der Lu-Jong-Übungen gezielt gedehnt, gepresst und entspannt, damit die Essenzen möglichst frei und kraftvoll fließen können.
Verschiedene buddhistische Strömungen haben Lu Jong beeinflusst, doch die heute gelehrte Form wurde von dem Lama Tulku Lobsang Rinpoche entwickelt. Der tibetische Arzt hat die ursprünglichen Übungen modifiziert, um modernen Menschen besser helfen zu können. „Er hat gesehen, welche Probleme in der westlichen Welt vorherrschen“, sagt Höllman. Man könnte diese wohl so zusammenfassen: Die Menschen sind verstrickt in negative Gedanken und spüren ihren Körper und seine Bedürfnisse zu wenig.
Die verschiedenen Übungen
Lu Jong umfasst 21 Bewegungsfolgen mit fremdartigen und (in der Übersetzung) zugleich sehr anschaulichen Namen, die in vier Gruppen zusammengefasst sind und in fester Reihenfolge nacheinander absolviert werden. Die größte Bedeutung für den Alltag hat die erste Gruppe, deren fünf Übungen in diesem Beitrag beschrieben sind, weil sie für ein harmonisches Gleichgewicht verschiedener Energiequalitäten sorgen. Der zweite Block fördert die Beweglichkeit, der nächste dient der Gesundheit der Organe und der letzte umfasst Übungen, die verschiedenen Erkrankungen vorbeugen oder sie sogar lindern – Infektionen ebenso wie Magenprobleme und Tumore. Jenseits der vier Blöcke gibt es zwei weitere Übungen zum Einschlafen, beziehungsweise, um sich nach dem Aufwachen vitaler zu fühlen. Die Übungen sollten grundsätzlich weder zu schnell noch zu langsam durchgeführt werden: „Lu Jong strebt immer einen Mittelweg an – auch um zu lehren, selbst immer wieder in die eigene Mitte zurückzufinden“, sagt Elke Höllman.
Nach den sieben Wiederholungen einer Bewegungsfolge wird jeweils dreimal auf besondere Weise geatmet: Beide Hände in Höhe des Nabels vor den Körper halten und mit einem langen, tiefen Atemzug durch die Nase anheben, maximal bis zum Hals. Dann mit einem stimmlosen „Ha“ (ähnlich wie das Geräusch beim Gähnen) durch die Nase ausatmen und dabei die Hände wieder langsam zum Nabel senken. Höllman: „Auf diese Weise gibt man Gifte ab, die durch die vorangegangene Übung mobilisiert wurden.“ Das können ebenso stoffliche Substanzen sein wie mentale Energien.
Eine „Abschlussentspannung“ im Liegen gibt es anders als bei vielen anderen Yoga- und Gymnastikkursen hier nicht; die Übungsreihen enden mit einer meditativen Stille. Lesen Sie den vollständigen Beitrag in Ausgabe 06/2015.