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Interview: Wenn uns das Leben überfordert

Info3 Verlag

Markus Treichler
Der Psychiater, Psychotherapeut und Autor (Jahrgang 1947) leitete von 1987 bis 2012 als Chefarzt die Abteilung für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Kunsttherapie und Heileurythmie an der Filderklinik bei Stuttgart. 2017 erschien sein Buch „Die Botschaft des Schmerzes. Anregung und Orientierung für Betroffene, Ärzte und Therapeuten“ (Info3 Verlag).

Werden Belastungen zu lange verdrängt, macht der Körper mit Schmerzen deutlich, dass es höchste Zeit zum Umsteuern ist. Hier setzt die psychosomatische Medizin an.

Schmerz hat viele Gesichter. Schmerzen können akut auftreten und schnell vergehen, oder sie können chronisch, langanhaltend, wiederkehrend und zermürbend sein. Am häufigsten treten anhal­tende Schmerzen als Rückenschmerzen und als Kopfschmerzen auf. Bei einer Umfrage in Deutschland gaben 40 Prozent der Erwachsenen an, Rückenschmerzen zu haben. Sie sind der am weitesten verbreitete Grund für Krankschreibungen. Bis zu 25 Prozent der erwachsenen Bevölkerung leiden mindestens gelegentlich an Kopfschmerz, bei drei Prozent tritt er fast täglich auf.

Damit sind chronische Schmerzen eine große Herausforderung: für jeden Betroffenen, für die Medizin und für unsere Gesellschaft, denn die Zahl der chronisch Schmerzkranken nimmt zu. Um sie zu therapieren, reicht es nicht aus, die körperlichen Ursachen und Symptome zu behandeln, sagt der Arzt für Psychosomatische Medizin Markus Treichler. Ein anderes Verständnis des Schmerzes sei nötig..

natürlich gesund und munter: Herr Treichler, was unterscheidet chronische von akuten Schmerzen?
Markus Treichler: Akuter Schmerz hat meist eine klare biologische Funktion für den Organismus. Er deutet auf eine Gefahr, eine Erkrankung hin, er verlangt, je nach Intensität, sofortige Behandlung und Schmerzlinderung, Ruhe und Schonung. Solch eine klare biologische Warn- oder Signalfunktion hat chronischer Schmerz nicht. Stattdessen hat er, wie die Schmerzmedizin immer wieder betont, eine klare­ psychologische Funktion.  



Als psychosomatischer Arzt behandeln Sie also nicht nur schmerzende Körperteile, sondern auch die Seele?
Körperliche Schmerzen sind ein Geschehen, das den ganzen Menschen betrifft. Und gerade chronische Schmerzsyndrome sind immer psychosomatisch zu verstehen: Sie sind nie nur organisch bedingt, immer spielt die Seele, spielen Gefühle, Sorgen, Krisen, Stress oder Beziehungskonflikte eine wesentliche Rolle, sowohl bei der Entstehung wie bei der Chronifizierung der Schmerzen. Insbesondere chronische Schmerzen, die ohne körperliche Ursachen auftreten, belasten die Betroffenen stark.

Was folgt daraus für die Behandlung?
Chronischer Schmerz erfordert neben einer angemessenen Schmerzlinderung vorsichtige Übung, Training, langsame Aktivierung. Schonung und ­Ruhe hingegen würden die chronischen Schmerzpatienten zusätzlich schwächen. Vor allem brauchen sie eine individuelle und interdisziplinäre Behandlung, also nicht nur medikamentös, sondern auch mit Bädern, Bewegungstherapie, mit Kunsttherapie, besonders Musiktherapie, und Psychotherapie.  

Warum Psychotherapie?
Die erste Herausforderung in der Bekämpfung von chronischen Schmerzen ist nicht, das passende Medikament zu finden, sondern das Verständnis und die persönliche Bewertung des eigenen Schmerzes: Schmerzen haben immer etwas zu bedeuten, sie haben immer eine Botschaft, die es im Rahmen einer Therapie zu entschlüsseln gilt.

Wie funktioniert das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In meine psychosomatische Sprechstunde kam eine 52-jährige Frau, die seit Jahren unter chronischem Kopfschmerz litt. Schmerztabletten halfen nicht mehr, und der Hausarzt hatte sie an mich überwiesen. Die Patientin ist von Beruf Chefsekretärin in einem wissenschaftlichen Institut, in dem sie zwei Chefs hat; als die beiden Forscher zu Konkurrenten wurden und sich im Institut stritten, wurde es für die Chefsekretärin immer schwieriger. Jetzt begannen ihre Kopfschmerzen, die sie bisher nur sporadisch hatte, häufiger und vor allem heftiger zu werden. Irgendwann war es so schlimm, dass sie dauerhaft krankgeschrieben werden musste. In den psychotherapeutischen Gesprächen arbeiteten wir ihr Dilemma heraus: ihre Neigung, alles perfekt und es auch beiden Chefs  immer zur vollsten Zufriedenheit recht zu machen. Jetzt war eine Entscheidung von ihr verlangt; jetzt musste sie nein sagen, was sie noch nie richtig gekonnt hatte. Die Kopfschmerzen waren das Signal des Körpers, dass sie so nicht weitermachen konnte; nachdem sie dieses Signal lange missachtet hatte und die Situation im Institut nicht besser, sondern schlechter geworden war, half der Körper ihr mit der Arbeitsunfähigkeit infolge heftiger und therapieresistenter Kopfschmerzen. Sehr schnell nach ihrem während der Behandlung gefassten und umgesetzten Entschluss, die Stelle zu kündigen, wurde sie ohne weitere Medikamente schmerzfrei.

Sind die Zusammenhänge zwischen körperlichen Schmerzen und seelischen Problemen immer so offensichtlich?
Manchmal sind die Zusammenhänge verborgener, manchmal wollen sie die Betroffenen auch nicht gerne einsehen. So war es bei einem anderen meiner Patienten, der mit akuten, heftigen Rückenschmerzen zu mir kam. Der 44-Jährige führte den „Hexenschuss“, wie er selbst es nannte, auf den Stress im Beruf zurück. Die Beschwerden traten in einer schwierigen Situation auf: als Ingenieur arbeitete er sowohl im Büro als auch auf Baustellen im Freien. Er war kräftig, gesund und abgehärtet, verstand sich als „Schaffertyp“, aber wie sich in unseren Gesprächen zeigte, war dahinter ein sehr sensibler, unsicherer Kern verborgen. Nun hatte er aufgrund von Umstrukturierungen im Betrieb einen neuen, ihm unbekannten Einsatzbereich zugeordnet bekommen, und genau jetzt eröffnete ihm seine Frau, dass sie für einige Zeit zu ihren kranken Eltern fahren und er allein für die beiden pubertierenden Kinder sorgen müsse, neben seiner neuen beruflichen Herausforderung. Das war zu viel Ungewohntes für ihn. Seine Angst, seinen Ärger, seine Wut verschluckte und verdrängte er allerdings, anstatt sie auszusprechen, er ergab sich in seine ungeliebte neue Situation, er „ballte“ seine Kraft zusammen – und erlebte diese heftige Schmerzattacke im Bereich der Lendenwirbelsäule, begleitet von Angst, Sorge und Haltlosigkeitsgefühl. Dass der akute „Hexenschuss“ mehr mit ihm, seiner verdrängten Wut und seinen Überforderungsgefühlen als mit einer „falschen Bewegung“ oder dem beruflichen Stress zu tun hatte, wurde ihm nur langsam einsichtig. Es fiel ihm einfach schwer, über seine Unsicherheit und seinen Ärger zu sprechen und mit Worten nach einer Lösung zu suchen. Nach unseren Gesprächen nahm er sich jedoch vor, künftig nicht alles still zu ertragen, sondern achtsamer mit sich zu werden und auch mal über das zu sprechen, was ihn bedrückt.

Den tieferen seelischen Ursachen körperlicher Schmerzen auf die Spur zu kommen, bedeutet ja nicht automatisch, sie loszuwerden. Wäre es nicht schön, wenn der Schmerz einfacher zum Verschwinden gebracht werden könnte?
Ja, der Schmerz – auch wenn er noch so genau lokalisiert werden kann – wirkt weit über die Begrenzung seines Ortes oder seines Erlebens hinaus. Der Schmerz ergreift uns ganz, er kann unser Leben verändern. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn viel Forschung, Mühe und Geld aufgewendet werden, um den Schmerz zu verringern, um ihn zu bekämpfen und ihn nach Möglichkeit auszuschalten, ihn „wegzumachen“ aus dem Leben des Menschen. Weil der Schmerz ein großer Störenfried ist in unserem Leben, weil er die Annehmlichkeit und Bequemlichkeit, die wir uns angewöhnt haben, empfindlich stört – und weil wir ihn im Grunde nicht verstehen.

Aber was bedeutet es, wenn wir Schmerzen haben? Ist Schmerz immer ein Hinweis auf eine dahinter liegende Erkrankung – oder kann Schmerz selbst eine Erkrankung sein?
Mit dem Problem „reiner“, organisch unbegründeter, aber dennoch vorhandener Schmerzen ringt die Medi­zin seit 200 Jahren; vor allem diese Schmerzen waren Mitte des 20. Jahrhunderts der Grund, ein neues Fachgebiet zu entwickeln, nämlich die Schmerzmedizin. Eine spezielle Bezeichnung für ursächlich nicht organisch begründete chronische Schmerzen ist das sogenannte anhaltende somatoforme Schmerzsyndrom. Dabei kommt seelischen Erlebnissen und Gefühlen große Bedeutung zu.

Wie hängt das zusammen?
Jeder kennt es aus der eigenen Erfahrung: Wenn ein Gefühl besonders stark, intensiv und insbesondere wenn es unangenehm ist, wenn uns ein Problem unlösbar erscheint, dann kann es uns die Sprache verschlagen; dann finden wir keine Worte mehr, dann wollen wir auch nicht darüber sprechen, dann werden wir stumm. Wir drängen solche Gefühle aus dem Bewusstsein, aus der Seele heraus, weil wir nicht mit ihnen umgehen können, und dann finden diese Gefühle ihren Weg in den Leib, in ein Organ, um sich von dort in der jeweiligen Organsprache Ausdruck zu verschaffen, um zu Gehör oder zu Gesicht zu kommen. Die Organsprache Schmerz tritt dann stellvertretend auf für die nicht zugelassenen, „verschwiegenen“, verdrängten Gefühle und die ungelösten Probleme. Das kann so lange geschehen, wie die gefühlsauslösende Situation oder das ungelöste Problem, also eine seelische Belastung wie im Beispiel der beiden Patienten, oder eine biografische Krise anhält. Da solche Situationen häufig längere Zeit andauern, entsteht dementsprechend ein chronischer Schmerz, eben das anhaltende somatoforme Schmerzsyndrom. 

Da ist also keine Einbildung im Spiel, keine Simulation oder ähnliches?
Nein. Das ist ein ernst zu nehmendes Krankheitsbild, das eine intensive, meist mehrdimensionale Therapie erfordert. Schmerz betrifft nie nur den Körper allein, immer sind wir auch seelisch betroffen. / Das Gespräch führte Julia Schröder.

Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 1/2021



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