Markus Treichler
Der Psychiater, Psychotherapeut und Autor (Jahrgang 1947) leitete von 1987 bis 2012 als Chefarzt die Abteilung für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Kunsttherapie und Heileurythmie an der Filderklinik bei Stuttgart. 2017 erschien sein Buch „Die Botschaft des Schmerzes. Anregung und Orientierung für Betroffene, Ärzte und Therapeuten“ (Info3 Verlag).
Ein Virus bestimmt unser Leben. Darunter leidet auf Dauer die Seele. Aber in der Krise kann auch eine große Chance liegen, sagt der psychosomatische Mediziner Markus Treichler.
Das Corona-Virus SARS-CoV-2 und die von ihm verursachte Lungenkrankheit COVID-19 verändern und prägen das Leben von Milliarden Menschen auf der ganzen Erde. Corona ist zugleich der Name einer Krise. Die Psychotherapie und die psychosomatische Medizin befassen sich gemeinhin mit Krisen anderer Art, mit Beziehungskrisen, biografischen Krisen, Entscheidungs- oder Orientierungskrisen. Aber jede Krise, sagt der psychosomatische Arzt und Therapeut Markus Treichler, markiert einen Wendepunkt, an dem es auf eine Handlungsentscheidung ankommt: Nach der Krise wird es entweder besser, wenn die Handlung die richtige, also hilfreiche war. Oder es wird schlechter, wenn die falsche Entscheidung gefällt wurde. An diesem Punkt stehen wir derzeit. Markus Treichler erklärt im Gespräch, warum Angst kein guter Ratgeber ist und worauf es – jenseits von Schutzmaßnahmen und Forschung an Impfstoffen und Medikamenten – nun ankommt.
natürlich gesund und munter: Herr Treichler, seit vielen Wochen beeinträchtigen das Corona-Virus und seine Folgen unser Leben. Was macht das mit uns?
Markus Treichler: Einerseits kann SARS-CoV-2 unseren Körper befallen, uns also infizieren, und bei ungefähr der Hälfte der Infektionen führt der Befall auch zu Krankheitssymptomen. Wir spüren also, dass wir krank sind. Aber es kann uns auch in Angst versetzen: Angst vor eigener Ansteckung, Angst davor, dass unsere Lieben erkranken, Angst um die Zukunft unserer Kinder, Angst vor den Folgen für unser Wirtschaften und Zusammenleben.
Was ist die Folge solcher Ängste?
Die Ansteckung mit Angst ist nicht lebensgefährlich, aber sie schränkt das Leben ein, sie macht das Leben enger als nötig. Das bemerken wir gerade, wenn wir unseren gewohnten Lebensstil, mit fast unbegrenzter Mobilität, nicht mehr leben können und dürfen.
Halten Sie diese verordneten Einschränkungen denn für übertrieben?
Die Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens sind nach wie vor berechtigt, aufgrund der Sorge vor einer schnellen Ausbreitung, die unser medizinisches Versorgungssystem überlasten würde. Aber weder die Maßnahmen noch unsere Reaktion darauf, noch unsere Einstellung zur Pandemie sollten von Angst bestimmt werden.
Warum nicht?
Die Angst kann uns nicht nur lähmen. Sie kann darüber hinaus unser Immunsystem schwächen – und das macht uns anfälliger für Infektionen. Aus vielen Studien wissen wir, dass Infektions- und Erkrankungsraten bei Infektionskrankheiten sehr verschieden sind. Ob ein Infizierter erkrankt, hängt nicht nur vom Erreger, sondern auch von psychologischen, psychosozialen und soziologischen Faktoren ab. Es gehören also immer der Mensch und eine bestimmte Situation dazu.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Die notwendigen hygienischen Schutzmaßnahmen sollten nicht infrage gestellt werden. Aber es ist wichtig, Faktoren einzubeziehen, die den Menschen innerlich stärken, ihn psychsisch und mental aufbauen, ihn Sinn erleben lassen. Mit solchen inneren Qualitäten können Menschen ihre Bewältigungsstrategien besser aktivieren und somit eher gesund bleben. Angst bewirkt das Gegenteil. Was empfehlen Sie stattdessen? Mit welcher Einstellung kann jeder einzelne der Gefahr, die von SARS-CoV-2 ausgeht, begegnen? Was uns neben Sorgsamkeit und berechtigten Vorsichtsmaßnahmen hilft, sind Zuversicht und Selbstvertrauen.
Das klingt gut. Aber woraus die Zuversicht schöpfen?
Wie gesagt, bis zu 50 Prozent der Infizierten entwickeln keine oder kaum Symptome. Und die von dem Virus ausgelöste Erkrankung Covid-19 nimmt in den meisten Fällen einen harmlosen bis milden Verlauf. Nach überstandener Infektion entwickeln die Betroffenen nach derzeitigem Kenntnisstand für eine gewisse Zeit eine Immunität gegen das Virus.
Sie haben als zweiten Faktor Selbstvertrauen genannt. Warum ist das jetzt wichtig?
Wir brauchen gerade jetzt das Selbstvertrauen, dass ein vernünftiger Lebensstil uns mehr hilft als übertriebene Angst.
Wie würden Sie einen „vernünftigen Lebensstil“ beschreiben?
Das ist ein Lebensstil, der Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann, der das Wesentliche schätzt und pflegt und auf Unwesentliches auch mal verzichtet, ein Lebensstil, der in der Begrenzung auch eine Chance sehen kann.
Wo sehen denn Sie diese Chance?
Wirkt sich diese – vorübergehende – Beruhigung und Entschleunigung unseres Lebens nicht jetzt schon positiv aus auf die natürliche Umwelt wie auch auf unsere persönliche Innenwelt? Es gibt zum Beispiel weniger Luftverschmutzung. Grundsätzlich gelingt es nur selten, noch während einer Krise ihren Sinn zu erkennen. Entscheidend ist deshalb auch nicht das unmittelbare Verstehen, sondern die innere Haltung der Krise gegenüber, nämlich die, dass sie einen Sinn hat – auch wenn wir ihn noch nicht verstehen. Die Sinnhaftigkeit eines Ereignisses ist oft größer als unser Verstand.
Kann die Corona-Krise auch längerfristig etwas Positives bewirken?
Wir haben jetzt Gelegenheit, einmal Bilanz zu ziehen, wohin die Überglobalisierung uns geführt hat, wohin die Übermobilität uns geführt hat, wohin Grenzenlosigkeit im Wollen und im Handeln führen kann. Jetzt, durch die – erzwungenen, vorübergehenden und berechtigten – Einschränkungen unseres gewohnten Lebensstils, kann auch jede und jeder von uns sich besinnen und sich ganz neu fragen, was wirklich wichtig ist, für sich selbst und für die Mitmenschen. Abstand halten, das ist nicht nur äußerlich vonnöten, sondern auch innerlich, emo-tional-mental. Es bedeutet: sich nicht von Angst und Panik treiben lassen, innere Ruhe und Zuversicht suchen, etwa, indem Sie sich mit Kunst, Musik, Literatur und Spiritualität beschäftigen.
Spricht hier der psychosomatische Mediziner?
Es geht ja nicht nur darum, die Krankheit zu überleben, die Krise zu überstehen, sondern auch, sie posi-tiv zu bewältigen, daraus zu lernen. Wir kennen das aus der Medizin von Menschen im Umgang mit ihrer schweren Erkrankung, von Menschen mit trauma-tischen Erlebnissen oder in existenziellen Lebenskrisen. Viele von ihnen gehen „gereift“ daraus hervor, können für sich und auch für ihre Mitmenschen an der Krise „gewinnen“.
Und dann?
Aus der Besinnung, aus der daraus folgenden (Selbst-)Erkenntnis kann sich Vertrauen entwickeln. Vertrauen in sich selbst, in die (Neu-)Findung der eigenen Werte und Perspektiven. Und Vertrauen in die Gemeinschaft und in die Welt: die Zuversicht, dass wir gemeinsam besonnen die Krise durchstehen, die Chance nutzen, und dass die Besinnung zu einer positiven Neuausrichtung führen kann.
Liegt darin vielleicht das beste Heilmittel gegen unsere Angst in der Krise?
Mehr noch. Die Perspektive der positiven Neuausrichtung nimmt uns die Angst und lässt uns stattdessen mit berechtigter Sorge, auch um unsere Mitmenschen, vernünftig leben – wozu angemessene Vorsichtsmaßnahmen gehören. Aber sie stärkt eben auch unsere Gesundungskräfte. Und auf die kommt es an – gegen Viren wie gegen Ängste. /Das Gespräch führte Dr. Frieder Stein
Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 3/2020