Professor Josef Settele
Der Agrarwissenschaftler und Professor für Ökologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat den Forschungsschwerpunkt Landnutzung und Biodiversität, dabei insbesondere die Insektenkunde. Er ist Mitglied des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). Er war Koordinierender Leitautor im fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC und Ko-Vorsitzender des Globalen Berichts des Weltbiodiversitätsrates IPBES. Gemeinsam mit Elisabeth Kühn leitet Prof. Dr. Josef Settele das Tagfalter-Monitoring, das einzige deutschlandweite Langzeitmonitoring für Insekten..
Wo die Artenvielfalt schwindet, haben neue Viren leichtes Spiel, und wenn die Insekten sterben, können wir Menschen nicht überleben. Der Ökologe Josef Settele erklärt, wie wir jetzt gegensteuern können.
Selbst wenn Covid-19 viele Opfer gefordert und der Wirtschaft großen Schaden zugefügt hat, steht leider außer Frage: diese Pandemie ist oder war nicht die größte Bedrohung unserer Gesundheit und unseres Wohlstandes. Noch weitaus größere Gefahren birgt – neben der Erderwärmung mit ihren Folgen – der Rückgang der Artenvielfalt, der weiteren Pandemien den Weg ebnet. Dem Ökologen Prof. Dr. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Halle/Saale ist es seit vielen Jahren
ein großes Anliegen, den Menschen die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Klimawandel und Biodiversitätsverlust sowie nun auch den neuartigen ansteckenden Krankheiten näher zu bringen. 2020 erschien sein Buch „Die Triple-Krise“ (Edel Books). Warum uns eine ausgewogene Artengemeinschaft vor Infektionen schützt und was wir zum Erhalt der Biodiversität beitragen können, erklärt der gebürtige Allgäuer (Jahrgang 1961) im Gespräch.
natürlich gesund und munter: Herr Professor Settele, Ihr jüngstes Buch sollte „Bevor der letzte Schmetterling stirbt“ heißen. Dann haben Sie das Skript binnen weniger Monate deutlich umgekrempelt und es „Die Triple-Krise – Artensterben, Klimawandel, Pandemien“ genannt. Wie kam es dazu?
Prof. Josef Settele: Auslöser war die Corona-Krise, die ich als ein unüberhörbares Signal an die Menschheit verstehe. Zwischen Insektenschwund und bedrohlichen Virusinfektionen besteht ein enger Zusammenhang, den viele Umweltforscher schon lange sehen. Anfang April 2020, also zu Beginn der ersten Ansteckungswelle, war ich zur Bundespressekonferenz eingeladen, um zum Thema „Bekämpfung von Seuchenursachen – welche Rolle spielt die Natur?“ zu sprechen. Hier habe ich deutlich gemacht: Das Ganze hat viel mit Naturzerstörung zu tun. Das bekam in den TV-Hauptnachrichten bestenfalls 30 Sekunden Sendezeit.
Ihre Warnungen verhallten in all den Corona-Sorgen …
Das ist verständlich, dennoch ist es allerhöchste Zeit zum Umdenken! Schon vor 2010 habe ich mich in einem großen Forschungsprojekt mit dem Thema Pandemien beschäftigt und ein Zukunftsszenario entworfen, das wir in einem Beitrag für ein englischsprachiges Fachbuch beschrieben. Zur Verdeutlichung wählte ich Fotos von Menschen mit Mund-Nasen-Schutzmasken. Von einigen Kollegen kamen Kommentare nach dem Motto „Du hast 'ne Meise! Das wird nicht passieren.“ Damals musste ich mich verteidigen, heute stellt das kein informierter Mensch mehr in Frage.
Sie sind Ökologe – nicht Virologe – und hatten eine derartige Pandemie schon auf der Agenda? Was hat der Artenschwund mit Virusinfektionen zu tun?
Die Biodiversität, also die Artenvielfalt, spielt eine entscheidende regulatorische Rolle. Wann immer der Mensch neue Gebiete für sich erschloss, kam es zu Artenverlusten. Je mehr Lebensräume von Tieren und Pflanzen wir zerstören, je ungezügelter wir unsere Städte und ihre Einzugsgebiete in die Landschaft wuchern lassen, desto höher wird das Risiko neuer Pandemien. Denn wo wir Menschen uns ausbreiten, entsteht eine homogenisierte Landschaft, in der nur noch wenige dominante Arten überleben. Hinzu kommt: Wo es massenhaft Vertreter derselben Art gibt, bekommen Krankheitserreger viel Zeit, sich auszubreiten und zu modifizieren. Diese Dominanz weniger Arten gepaart mit einem engen Kontakt zum Menschen erhöht das Risiko für ein Überspringen solcher Erreger. Bei fast acht Milliarden Menschen auf der Erde wird dem Virus Covid-19 reichlich Experimentierfläche geboten, wie wir an der Entstehung diverser Mutanten schon feststellen müssen.
Warum sollten uns nun gerade Insekten retten, die auch so manchen Krankheitsüberträger und Schädlinge in ihren Reihen haben?
Insekten sind die Basis jeden Ökosystems. Von ihnen ernähren sich Vögel, Reptilien, Amphibien und kleine Säuger, die wiederum anderen Tieren Nahrung bieten. Wir Menschen verdanken den Insekten Ökosystemleistungen wie Bestäubung und Zersetzung. Rund um den Erdball bestäuben Insekten fast 90 Prozent aller Blüten- und 75 Prozent aller wichtigen Nutzpflanzen, von denen rund ein Drittel für unsere Ernährung essentiell ist. Aber nicht nur die Lebensmittelproduktion hängt von dieser Leistung ab, sondern auch die Herstellung von Fasern, Medikamenten, Biokraftstoffen und Baumaterialien. Das Verschwinden der Bestäuber wie Hummeln, Bienen, Nachtfalter wäre eine Katastrophe in der Katastrophe. In den nächsten Jahrzehnten sind global etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Davon eine halbe Million Insektenarten … und das ist extrem vorsichtig geschätzt. Eher werden es mehr sein – so wir nicht gegensteuern.
Was bedroht die Artenvielfalt der Insekten besonders?
Ihre Lebensräume werden sich – wie die vieler anderer Arten – durch den Klimawandel stark verändern. Was aber die Lage der Insekten auf dramatische Weise verschärft, ist die konventionelle Agrarwirtschaft, die gezwungen scheint, für die Ernährung von immer mehr Menschen immer intensiver wirtschaften zu müssen. Es wäre aber absolut nicht fair, die Schuld vor allem auf die Bauern zu schieben. Die Landwirtschaft – das sind wir alle. Wir alle leben von dem, was auf den Böden wächst. Es ist unsere Entscheidung, was wir kaufen und wie viel wir bereit sind, dafür zu bezahlen. Landwirte müssen, wie wir alle, von ihrem Einkommen leben können. Alles, was Insekten helfen würde – Blühstreifen, Ackerbrachen, Hecken, Verzicht auf Pestizide, standortgerechte und vielfältige Frucht- und Sortenwahl –, erfordert Umstellungen in unserem Konsum. Das würde die Erzeugung von mehr pflanzlichen Produkten und damit weniger Flächenanspruch nach sich ziehen – oder eben höhere Kosten. Direkt oder indirekt muss der Schutz von Insekten und Natur stärker belohnt werden.
Der Homo sapiens, also der vernunftbegabte Mensch, ist das einzige Wesen auf Erden, das seine Lebensgrundlagen ausbeutet, verschmutzt und vergiftet. Was denken Sie: Liegt das am anthropozentrischen Weltbild, an der selbstherrlichen Idee des Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘?
Überheblichkeit ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind. Zumindest aber die fehlende Bereitschaft, darüber nachzudenken, was ausreichen würde, um zu überleben. Stattdessen steht für viele ein Immer-mehr, Immer-größer, Immer-schneller im Zentrum ihres Denkens. Außerdem ist es doch trotz dramatischer Warnungen und umfassender Aufklärung gerade bezüglich Klimawandel bisher immer noch gut gegangen. Da liegt auch eine Schwierigkeit für uns Wissenschaftler: Wir prognostizieren und erklären Dinge, die vorerst kaum jemand am eigenen Leib erfahren wird. Es ist absolut menschlich, erst einmal abzuwarten. Deshalb mein Appell: Fangen wir sofort an, etwas zu ändern! Und zwar energisch und konsequent. Das Ruder herumzureißen, wird ein langer Prozess werden, weil wir so lange zugeschaut haben.
Bewegt sich denn in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schon genug, um das besagte Ruder noch herumzureißen?
Es wird äußerst knapp, aber ich bleibe zuversichtlich. In letzter Zeit haben sich mehr und mehr Entscheidungsträger für eine Veränderung eingesetzt. Auf dem vierten One Planet Summit im Januar 2021 in Paris haben sich 52 Staaten dazu verpflichtet, bis 2030 rund ein Drittel der Land- und Meeresflächen unter Naturschutz zu stellen. Allerdings ist der Weg von Beschlüssen zum Handeln in der Politik ein langer, zäher Prozess, zumal Lösungsansätze nur dann sinnvoll sind, wenn sie global gedacht werden.
Sehen Sie in unserem individuellen Alltag genügend Handlungsspielräume?
Aber natürlich! Jeder Mensch kann seinen Beitrag leisten – auf den Willen kommt es an. Das Meiste dürfte bekannt sein: weniger Fleisch essen, regional und saisonal einkaufen, Kleidungsstücke länger tragen, auf Ökostrom umsteigen, Autofahrten sinnvoll planen, Flugreisen hinterfragen, öfter downloaden statt streamen, nicht jedes lästige Insekt gleich totschlagen, Rasen und Hecken nicht permanent stutzen, keine Schotterfläche ums Haus anlegen und schon gar nicht mit Glyphosat drübergehen …
Haben Sie Ihren Lebensstil verändert, angesichts Ihrer eigenen alarmierenden Forschungsergebnisse?
Selbstkasteiung ist nicht mein Ding. Ich werde weiterhin regelmäßig duschen, mit Freunden auch mal ein paar Würstchen grillen und für Reisen zu wichtigen Konferenzen und Verhandlungen in Übersee das Flugzeug nutzen und nicht ein Segelboot chartern. Wir alle müssen Nahrung zu uns nehmen, möchten uns einen guten Wein gönnen oder ein schickes neues Rennrad, ins Restaurant oder Kino gehen und das in Kleidung, in der wir uns wohl fühlen. Entscheidend dabei ist das Maßhalten. Ganz groß geschrieben werden sollte nämlich in Zukunft der Suffizienzgedanke. Dieser Begriff ist noch wenig bekannt, er steht für das rechte Maß oder für „ausreichend, genügend“ – im Bewusstsein der begrenzten natürlichen Ressourcen. Leider wird das Konzept oft mit persönlichem Verzicht gleichgesetzt und mit Einmischung in den persönlichen Lebensstil. Doch es geht um die Frage „Was genügt uns eigentlich?“
Wie sehen Sie die weltweite Klimaschutzbewegung Fridays for Future?
Sie trägt wesentlich dazu bei, das Interesse eines breiten Publikums zu wecken. Überhaupt sind unter den jungen Menschen viele Hoffnungsträger. Wir haben eine Umfrage unter Schülerinnen und Schülern der neunten bis elften Klassen eines Hallenser Gymnasiums durchgeführt, um etwas über ihren Wissensstand zur Biodiversität zu erfahren und darüber, zu welchen Pflanzen und Tieren sie mehr lernen wollten. Ich hätte nie gedacht, dass es so leicht ist, Kinder und Jugendliche für diese Themen zu begeistern! Meine Kollegin Karin Ulbrich vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hat federführend die hochkomplexen Forschungsergebnisse zu der Frage, warum wir Insekten erhalten müssen, in einer Lernsoftware für Kinder und Jugendliche in Schulen aufbereitet. Ich möchte alle Schulen in Deutschland dazu aufrufen, unsere Mittel, die kostenfrei zur Verfügung stehen, zu nutzen. Wir hoffen, einen unbedingt notwendigen Beitrag dazu zu leisten, das Wissen aus den Sphären der Wissenschaft „auf die Erde“ zu bringen. / Das Gespräch führte Doro Kammerer