Das Lebendigste einer Pflanze ist der Jungtrieb. Die Gemmotherapie macht sich dies zunutze, indem sie genau daraus Arzneien gewinnt. Ein Besuch beim Hersteller Spagyros in der Schweiz.
Die Kraft, die eine Pflanze wachsen lässt, sie schützt und regeneriert, ist in der Knospe – lateinisch Gemma – besonders stark. Die Gemmotherapie beruht darauf, dieses Prinzip auf den Menschen zu übertragen, indem sie aus Knospen Arzneimittel gewinnt. Als Grundstoffe dienen heimische Pflanzen, Bäume und Sträucher, die jeder kennt: Schwarze Johannisbeere, Wacholder, Linde, Birke oder Buche. Und so gewöhnlich wie die Pflanzen, so üblich sind die Erkrankungen, die mit ihnen behandelt werden können, ganz gleich, ob akut oder chronisch. „Gerade Funktionsstörungen können gut mit den Mitteln aus Knospen gelindert werden“, erklärt Jacqueline Ryffel, Geschäftsführerin der Firma Spagyros in der Nähe von Bern, die seit fast 20 Jahren handgefertigte Gemmopräparate und andere Naturarzneien herstellt.
Heilkundliche Beschreibungen liegen zu 50 Knospenarten vor, am häufigsten verwendet werden die Triebe von 20 Pflanzen. Seltenere Mittel werden bei Spagyros miteinander kombiniert. Ryffel: „In der Gemmotherapie gibt es also – wie in der Phythotherapie überhaupt – Komplexmittel, deren Wirkstoffe aufeinander abgestimmt sind.“
Von Allergie bis Nervosität
Mit Arzneien aus Knospen lässt sich ein ähnliches Spektrum von Krankheiten behandeln wie mit den üblichen Pflanzenheilmitteln. Der Vorteil der Gemmoarzneien: ihre Inhaltsstoffe sind verglichen mit Tees und anderen pflanzlichen Zubereitungen besonders konzentriert. Hier drei Beispiele für die unterschiedlichen Einsatzbereiche.
- Aus den Blattknospen der Schwarzen Johannisbeere (Ribes nigrum) wird das am häufigsten verwendete und am besten untersuchte Mittel gewonnen. Ribes nigrum gilt als das Akutmittel in der Gemmotherapie. Es wird aufgrund seiner entzündungshemmenden Eigenschaften bei Halsschmerzen, Mittelohrentzündung oder Erkältungen verabreicht. Ratsam ist, das Mittel direkt, häufig und möglichst bei den ersten Symptomen einzusetzen. Die Johannisbeere wirkt als pflanzliches Kortison gut bei Allergien wie Heuschnupfen. Sie lindert akute und chronische Hautausschläge und kann begleitend zu einer konventionellen Behandlung von Gelenkbeschwerden, Migräne oder Reizdarm eingenommen werden.
- In den jungen Blattknospen der Himbeere, lateinisch Rubus idaeus, stecken wichtige Wirkstoffe, die besonders wertvoll für die Frauengesundheit sind. Rubus idaeus kann bei Menstruationsbeschwerden, prämenstruellem Syndrom, Krämpfen und Entzündungen im Bereich der Gebärmutter und bei Beschwerden in den Wechseljahren helfen. Die Himbeere ist ein pflanzliches Östrogen, das Hormonschwankungen stabilisiert und Funktionen der Eierstöcke reguliert. Es wirkt entspannend und schmerzstillend. Hebammen kennen die Wirkung der Himbeere und setzen sie zum Beispiel zur Beschleunigung der Geburt ein.
- Die Silberlinde (Tilia tomentosa) ist ein stattlicher Baum, der eine Höhe von 30 Meter erreichen kann. Die Blattknospen haben eine beruhigende und entspannende Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Silberlinde ist ein hervorragendes Mittel für alle, die Probleme mit dem Schlaf haben – ganz gleich, ob Erwachsener oder Kind. Bei Jacqueline Ryffel steht Tilia tomentosa auf dem Nachttisch für den Fall, „dass ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann“, erzählt sie. Das Mittel wirkt beruhigend und entspannend, sei es bei Prüfungsangst, Magenkrämpfen oder beschleunigtem Herzschlag – im Bereich der psychosomatischen Beschwerden liegt denn auch der Haupteinsatzbereich der Silberlinde.
Warum die Knospen heilen
In den Knospen sitzt die geballte Lebenskraft der Bäume und Sträucher. Die wichtigen Eiweißbausteine (Aminosäuren) sind in ihnen wesentlich stärker vertreten als später in den Blättern. Sie unterstützen die Ausscheidung von Schadstoffen aus den Zellen und regulieren die Zusammensetzung der Bluteiweiße. Bei Beerenpflanzen ist auch der Vitamin-C-Gehalt in den Knospen höher als später in der reifen Frucht. Hinzu kommen Pflanzenhormone, die Flavonoide; sie steuern den pflanzlichen Stoffwechsel. Beim Menschen unterstützen sie körpereigene Abwehrmechanismen und sind in der Lage, „freie Radikale“ unschädlich zu machen. Sie können Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen, wirken antibakteriell und antiviral. Über die Ernährung gelangen Flavonoide in den Organismus, wenn wir (ungeschälte) Äpfel, Rote Bete und Rotkohl essen. Im Krankheitsfall ist es jedoch wichtig, sie konzentriert zu nehmen.
Die Kunst ist, diese Heilkraft aus den Knospen herauszulösen. Erstmals gelang dies vor rund 60 Jahren dem belgischen Arzt Dr. Pol Henry. Er verwendete ein Gemisch aus Alkohol, Glycerin und Wasser als Auszugsmittel. So konnte er mehr Inhaltsstoffe aus den Knospen ziehen als mit Alkohol allein, mit dem ansonsten in der Pflanzenheilkunde Auszüge hergestellt werden.
Von der Pflanze zur Arznei
Die Pharmazeutin Jacqueline Ryffel ist sich sicher, dass in dieser Art der Herstellung „das Geheimnis der Knospen“ liegt, denn: „Das Besondere an den Gemmomitteln sind die Proteine – die würden zerstört, wenn man sie nur mit Alkohol aus der Knospe lösen würde.“ Doch für eine gute Arznei ist neben der Herstellung auch der Rohstoff wichtig. Auf der firmeneigenen Plantage von Spagyros im Schweizer Jura werden die Pflanzen für die Knospengewinnung biodynamisch angebaut, einige der verwendeten Arten stammen auch von Wildpflanzen.
Damit die sorgsam hergestellte Arznei bei der Einnahme nicht zum allergrößten Teil von der Magensäure zerstört wird und die wichtigen Proteine und Flavonoide direkt ins Blut gehen, sollten sie als Mundspray auf die Mundschleimhäute gegeben werden. Drei Sprühstöße dreimal täglich im Krankheitsfall ist die Empfehlung von Jacqueline Ryffel, deren Mittel auch in Deutschland erhältlich sind. „Die Gemmotherapie wirkt auch begleitend zur konventionellen Therapie“, erklärt sie weiter. „Sie schwächt Nebenwirkungen ab und stärkt das Immunsystem.“
Erfahren Sie mehr
Die Heilkraft der Pflanzenknospen
Ein übersichtlich und ansprechend gestaltetes Buch für Einsteiger in die Gemmotherapie: Porträts der 23 wichtigsten Knospen, ergänzt um praktische Tipps zum Selbersammeln. Cornelia Stern, Trias Verlag, 96 Seiten, 14,99 Euro (D), 15,50 Euro (A)
Gemmotherapie
Neben einer Einführung in die Knospenheilkunde und ausführlichen Pflanzenporträts gibt es hier einen großen Abschnitt zum Thema „Beschwerden selbst behandeln“. Dr. med. Barbara Bichsel, Dr. med. Julia Brönnimann, Ulmer Verlag, 160 Seiten, 19,90 Euro (D), 20,50 Euro(A)
Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 4/2017