Unsere Sehnsucht hilft uns zu erkennen, wo unser Potenzial liegt, sagt Christoph Schlick. Er muss es wissen: Nach vielen Jahren als Benediktinermönch brach er neu auf und wurde Therapeut.
Eigentlich sollte er Anwalt werden wie sein Vater, aber der 19-jährige Jura- und Theologiestudent Christoph Schlick entschied sich statt für die Robe für die Mönchskutte. Nach mehr als zwei Jahrzehnten in der Benediktinerabtei Seckau, wo er als Wirtschaftschef und Internatsleiter arbeitete, verließ er den Orden, heiratete, absolvierte eine Ausbildung zum Logotherapeuten und gründete das Sinnzentrum Salzburg. Die innere Stimme wahrzunehmen, um dem eigenen Leben eine Richtung zu geben – das ist es, was er vermitteln will.
natürlich gesund und munter: Herr Schlick, es gibt eine unüberschaubare Anzahl von Büchern, in denen Leser erfahren, wie sie glücklich werden. Was halten Sie von diesen Glücksratgebern?
Christoph Schlick: Ich bin skeptisch, wenn jemand Rezepte hat oder Heilsversprechen macht. Wenn Glücksratgeber anregen, sich damit auseinanderzusetzen, was einem wichtig ist, finde ich sie gut.
Ist es überhaupt sinnvoll, nach Glück zu streben?
Immer glücklich zu sein, wäre auf Dauer wenig spannend. Unser Leben besteht aus Gegensätzen, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Es gibt Phasen, in denen das Erleben intensiver wird, in denen wir spüren, dass wir am richtigen Platz sind, und es gibt Zeiten, in denen es darum geht, einfach Dinge abzuarbeiten. Das ertrage ich leichter, wenn ich weiß, dass es das Leben gut mit mir meint. Ich glaube, es geht vor allem darum, den richtigen Grundtenor im Leben zu finden. In der barocken Musik wird diese Grundgestimmtheit als basso continuo bezeichnet. Dieses harmonische Gerüst wirkt wie ein Sicherheitsnetz. Wenn ich von meinem Seil stürze, falle ich nicht zu tief, sondern nur bis zur Sicherheitsgrenze meines Urvertrauens.
Was raten Sie Menschen, die dieses Urvertrauen nicht haben oder denen es abhandengekommen ist?
Ich widerspreche Ihnen darin, dass wir das Urvertrauen verlieren können. Es kann nur sein, dass jemand keinen Zugang mehr dazu hat. Nach dem Erlebnis schwerer Verluste oder Traumata braucht es therapeutische Begleitung, davon bin ich überzeugt. Dann kommt es darauf an, jemanden zu finden, der nicht nur reparieren möchte, sondern der dieses Vertrauen selber spürt und auch weiß, wie es sich anfühlt, wenn es weg ist. Jemanden, der selbst durch Tiefen hindurchgetaucht ist.
Sie selbst haben eine Ausbildung zum Logotherapeuten absolviert. Wie arbeitet diese in Österreich anerkannte Psychotherapie?
Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, war der erste Psychotherapeut, der den Menschen als Ganzen betrachtete. Er hat das Stärkende, das Positive, die Ressourcen wahrgenommen. Das, was heute als Salutogenese und Resilienz bezeichnet wird, ist Kern der Logotherapie. Im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse suchen Logotherapeuten nicht das Problem, sondern schauen erst nach den Potenzialen eines Menschen und betrachten dann aus dieser Perspektive das Problem.
Unsere Gesellschaft verändert sich schnell, viele fühlen sich überfordert. Was raten Sie ihnen?
Zu Ruhe und Stille. Wir wollen es nicht gern hören, denn wir haben alle keine Zeit. Aber wenn wir diese Momente der Pause nicht haben, steigt die Gefahr, dass wir nicht mehr mitbekommen, wenn uns die Werte verloren gehen – also das, was uns wirklich wichtig ist. Wenn wir einfach nur noch funktionieren, aber nicht mehr sagen können, wofür.
Glauben Sie, nur wer innehält, kann sich mit seinen inneren Werten verbinden?
Ich glaube, man braucht die Ruhe, um zu hören, was da gesehen und gelebt werden möchte. Diese innere Stimme nenne ich Sehnsucht. Sie will unserem Leben Richtung geben.
Sie haben auf ihre Stimme gehört und verließen die Abtei Seckau, in der Sie 24 Jahre lang als Mönch und Priester lebten. Wussten Sie auf die Frage nach dem „Wofür“ keine Antwort mehr?
Unsere Gemeinschaft wurde immer kleiner, und es wäre an der Zeit gewesen zu überlegen, was wir wirklich wollen. Der Rücktritt des Abtes entfachte zwar eine Auseinandersetzung, doch wichtige Fragen nach der künftigen Form der Gemeinschaft wurden nicht diskutiert. Ich war ernüchtert und entschied mich schließlich, ein Sabbatical zu nehmen.
Apropos Sabbatical: Viele Menschen leiden heute an Burnout. Nimmt die Arbeit einen zu hohen Stellenwert in unserem Leben ein?
Gearbeitet haben die Menschen schon immer. Burnout hat meiner Meinung nach einen anderen Hintergrund. Wir haben heute einen übermäßigen Wirtschaftsdruck, müssen uns ständig behaupten. Wir haben aber auch einen übermäßigen Konsum- und Sozialstatusdruck. Wir brauchen alles doppelt, das zweite Auto, das zweite Haus und die zweite Frau, und alles sofort. Diese Dynamik wirkt nicht nur auf unsere Gesellschaft, sondern auch auf unsere Persönlichkeit. Wenn man nicht irgendwann entscheidet, was einem wirklich wichtig ist, gerät man schnell in eine stupide Lebensschleife.
Wie kommt man aus dieser Lebensschleife heraus?
Wenn ich Menschen begleite, frage ich sie nach ihren Potenzialen, danach, was sie wirklich gern tun. Wenn sie wieder zu spüren beginnen, wofür sie leben, setzt das enorme Kräfte frei.
Viele Menschen erleben es als Sachzwang, weiterhin das tun zu müssen, was sie tun.
Wenn wir in einen Job hineinwachsen, der uns nicht entspricht, oder bei einem Projekt nur halbherzig dabei sind, entwickeln wir irgendwann eine Erschöpfungsdepression. Man kann sich lange vorgaukeln, es sei wichtig, was man tut. Doch irgendwann kommt der Moment, da sagt Körper oder Seele: „Jetzt mache ich nicht mehr mit“. Bei Menschen, denen etwas wirklich wichtig ist, sehen wir hingegen, was die alles schaffen, ohne zu erkranken und unglücklich zu werden. Von Victor Frankl stammt der Satz: „Wer ein Wofür hat, erträgt jedes Wie.“
Glauben Sie denn, dass jeder Mensch eine Lebensaufgabe hat?
Da bin ich sehr skeptisch. Es geht vielmehr darum, im Moment zu sein und ganz bewusst zu erleben, was das Leben mich jetzt fragt. „Nicht wir fragen das Leben, sondern das Leben fragt uns“ – auch das sagt Viktor Frankl.
Wie ist der Satz gemeint?
Es geht nicht immer um die große Veränderung, sondern um das Kleine und Machbare: wieder einmal mit einem Freund gemeinsam zu Abend zu essen, mal das Handy zu Hause zu lassen oder einen langen Spaziergang in der Natur zu machen.
Unsere Bedürfnisse lassen sich aber nicht immer mit unseren Pflichten und Aufgaben vereinbaren.
Wir dürfen uns jeden Tag fragen: Will ich das wirklich, was ich tue? Ist es mir das wert? Einer meiner väterlichen Freunde sagt: „Niemand muss in der Früh aufstehen. Wenn du unsicher bist, setz dich auf die Bettkante und frag dich, mache ich heute noch mit? Wenn du ja sagst, dann mach mit – aber richtig!“ Viele machen alles so halbherzig.
Wenn Menschen nach Lösungen suchen, geraten sie leicht in ein Gedankenkarussell. Wie schafft man den Ausstieg?
Zwei Probleme sind weitverbreitet: das übermäßige Reflektieren und das übermäßige Intendieren. Im ersten Fall denke ich übermäßig viel nach, im zweiten will ich etwas übermäßig, also unbedingt. Dann kommen diese inneren Stimmen, es beginnt dieses zwanghafte Gequatsche im Kopf. Die Amerikaner bezeichnen es als Monkey Mind. In dem Moment muss man sich fragen: Wer ist hier eigentlich Chef im Haus, ich oder die Affen? Dann brauchen wir einen Stopp und Ruhe. Die erste Hilfestation dazu wäre die Natur. Wenn wir sie beobachten, stellen wir fest, dass der Rhythmus der Natur ein anderer ist. Wir Menschen hecheln durch die Woche, atmen Montag in der Früh ein und Freitagnachmittag wieder aus. Wenn wir uns nicht in einen neuen Rhythmus begeben, mit Meditation oder mit Achtsamkeitstraining, kann sich unser Geist nicht erholen.
Sie verstehen unter Verstand etwas anderes als unter Geist. Wie erkennen wir, ob der Geist oder der Verstand zu uns spricht?
Der Verstand und das Denken sind bloß psychische Funktionen. Das, was ich als Geist bezeichne, ist das Einzigartige an mir, mein Selbst, das nicht funktional eingesetzt werden kann. Der Geist bedient sich des Denkens. Den Unterschied von Verstand und Geist kann man gut an der Verwendung der Verben „haben“ und „sein“ erkennen. Man sagt, „ich habe Hunger“, „ich habe eine Idee“, „ich habe Schmerzen“. Aber ich „bin“ doch viel mehr als all das.
Wie kann man den Verstand beruhigen? Welche Übung wirkt Ihrer Erfahrung nach besonders gut?
Es gibt viele kleine Ansätze, wie man zu sich kommen kann und zu dem, was einem wichtig ist. Meine Workshops fange ich zum Beispiel oft mit der Dankbarkeitsübung an. Ich sage den Teilnehmern: „Schreib doch mal 50 Dinge auf, für die du dankbar bist.“ Dafür haben sie eine halbe Stunde Zeit. Meine Erfahrung zeigt, dass jemand, der 50 Dinge findet, nicht weit von 200 entfernt ist. Die meisten Teilnehmer kommen vollkommen verändert zurück. Diese Übung verändert ihre Haltung oftmals grundlegend. /Das Gespräch führte Inge Behrens. Diesen Beitrag finden Sie in Ausgabe 2/2019.
Christoph Schlick
Noch während des Studiums trat Christoph Schlick, 1961 in Graz geboren, 1980 in den Benediktinerorden ein, dem er 2004 den Rücken kehrte. Er ist als Logotherapeut, Autor, Dozent, Vortragsredner, Lebens- und Unternehmensberater tätig.
www.sinnzentrum.at
Buchtipp: Schick die Affen spielen, Christoph Schlick, Kösel Verlag, 158 Seiten, 18 Euro (D), 18,50 Euro (A)